Freitag, 25. Januar 2013

»Martyrs« bricht alle Regeln: Über seine Intensität und Essenz.

Martrys
Horror | Frankreich, Kanada 2008 | FSK 18 | 95 Minuten | Regie: Pascal Laugier


»Martyrs« beklemmt und peinigt den Zuschauer mit seiner expressiven Horrorinszenierung. Lächerliches Gemetzel, hirnverbranntes Foltern? Wie ist das Ganze zu deuten, was den einen durchaus zuwider wirken kann, den anderen in seiner unverdaulichen Intensität von Gewalt beeindruckend niederschlägt?

»Martyrs« ist eine filmische Grenzerfahrung. Er ist eine sehr abstrakte Form von Ergründung von Ursache und emotionaler Wirkung von Schmerz und Gewalt. Hier sind die Mörder keine Hinterwäldler mit Kettensägen mehr und auch keine verstrahlten Kreaturen aus Kanalschächten oder von den Hügeln hinter den Hügeln. Die Mörder sind zu einer Gesellschaft geworden – von außen nicht erkennbar, oberflächlich freundliche Glieder des gehobenen Bürgertums, die jedoch im Keller ihr perverses Geheimnis hegen.

Spätestens als die alte Dame, die Führerin, sagt »Es ist so leicht, ein Opfer zu finden«, sollte dem Zuschauer klar werden, wie kritisch und ernst es »Martyrs« ist. Am Ende des Films sehen wir ein kaum noch menschliches Wesen. Es sieht eine andere Welt. Die Wahngesellschaft – die uns in gewisser Weise doch so »völlig normal « erscheint? – ist genau davon fasziniert; das Mädchen leidet, der Schmerz und die Gewalt sei der Schlüssel zur anderen Welt; es geht um die Erforschung und das Wissen um ständige Gewaltzufuhr. Doch diese Faszination dieser Glaubensgemeinschaft dürfen wir nicht bequem als schlimmstenfalls »legitimiert« hinstellen, denn dazu besitzt der Film viel zu böse, ernstgemeinte Kritikelemente. Was die lebensklugen Leute als pseudophilosophisch und sinnlos brandmarken, ist an dieser Stelle doch gerade der Reiz an diesem Meisterwerk: Laugier zeichnet uns ganz überspannt, dass Gewalt den Menschen physisch wie psychisch zerstört. Ähnlich wie in »Antichrist« sehen wir doch in keiner Sekunde die Gewalt als schön an, nur weil sie uns verständlich (nämlich dort aus Selbstzerstörung und Verzweiflung) gemacht und damit begründet wird. Auch in »Martyrs« versucht man sich an Begründung von Gewalt, nämlich als menschenzerstörendes Instrument. Sie ist Mittel, um uns abzustoßen. Und nur wer Verabscheuendes zeigt, kann auch verabscheuen. Hier sehen wir zum Schluss Anna, die durch die Torturen ihre Menschlichkeit verloren hat. Sie empfindet und reagiert nicht mehr auf Reize und Schmerz – eines der Zeichen unseres Seins als Lebewesen. Sie liegt nur noch reglos da, atmet. Sie ist nur noch zum Teil lebendig. Was Laugier uns auf wahnsinnig intensive Art und Weise zeigt, ist, dass Gewalt und ständige Gewaltzufuhr den Menschen in uns zerstört. Im ersten Teil des Films sehen wir Lucie, die die furchtbarsten Wahnvorstellungen aufgrund ihrer langen Qualen hat, des Weiteren aufgrund ihrer Schuldgefühle, der anderen Frau bei ihrer Flucht nicht geholfen zu haben. Im zweiten Teil sehen wir Anna, die durch Schmerz und Gewalt ihr Menschsein verloren hat – sie wurde als Mensch zerstört und existiert hier in dieser Welt nicht mehr. Die Nahtoderfahrung möchte nicht in irgendeiner Weise verarbeitet werden (wie sollte sie auch?), sie unterstreicht nur den Wahn der Sekte. Mit dem Suizid der alten Mademoiselle am Ende weigert sie sich den Mitgliedern des Clans, die Erfahrung von Anna zu berichten. Oder um in den Tod zu gelangen, den Anna sah. Was es nun war, das verrät der Film uns nicht. Doch wir dürfen es uns nicht leicht machen und denken, Laugier möchte, weil das Experiment ja funktionierte und Anna letztlich etwas sah, die Gewalt und das Experiment rechtfertigen oder positivieren. Laugier sagte selbst über den Film, er möchte uns eine düstere Welt von Gewinnern und Verlierern zeigen, eine Welt, in der über alle Grenzen gegangen wird. Er selbst fühlte sich gefangen in einer solchen Welt, der heutigen Welt; dieses Gefühl wollte er uns mit diesem Film ausdrücken. In einem Interview sagte er: »When critics describe the film as butchery, a display of guts and gore, it saddens me very much. The film is a personal reaction to the darkness of our world. I would like it to touch the viewers, to plunge them in a state of profound melancholy, just like mine when I was filming, because I think that Martyrs is really a melodrama. Hard, violent, very disturbing, but a melodrama all the same. I hope it will be a powerful experience for those who will see it because I put everything I had into it.«

»Martyrs« ist die hypnotisierende Kraft der Gewalt, die wir als Zuschauer wahrnehmen und abstoßen. Es ist die grandiose Darstellung von Kausalität bitterer Gewaltzufuhr; sei es die wie hier bis aufs Äußerste dargestellte oder übertragbar auch nur die »alltägliche« physische oder psychische Gewalt, die uns in unserem gesamten Leben verfolgt, beeinflusst und verstört. Es ist die beeindruckende, kritische Analyse über das, was Gewalt, Schmerz und Auslieferung mit uns macht. Und wir als Zuschauer können mit unserer Abscheu doch genau das spüren. Es ist die Umkehrung des modernen Experimentierens; hier experimentieren die Menschen nicht mehr mit den Tieren, hier experimentieren die »Tiere« mit dem Menschen. Es ist die manifestierte Entlarvung am Schein des Familienlebens, das diese glückliche Familie anfangs ausstrahlt, und nach keiner halben Stunde der wahre Kern und seine Abgründigkeit der Eltern ans Licht kommt; genau wie die »völlig normal« gezeichneten und erscheinenden beiden Leute, die Anna in der zweiten Hälfte des Films foltern, nach dem Leitgedanken »Jeder kann der Böse sein«. Es ist das Urteil an irren, »ver-rückten« Menschen und Sekten, an der Morddevise, wie es in einer Szene heißt, »Es ist so leicht, ein Opfer zu finden«. Und es ist eine emotionale Reise in Menschen. Für mich jedenfalls. 






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