Dienstag, 23. Oktober 2012

Alejandro González Iñárritu: Mein Jahrhundertgenie, sein Gesamtwerk und seine Relevanz.


Alejandro González Iñárritu ist ein unbeschreibliches Genie, denn was man in seinen Filmen fühlt und innerlich erlebt ist eigentlich kaum in Worte zu fassen. Doch jedes Schweigen muss irgendwann gebrochen werden. Was macht ihn zu meiner absoluten Nummer eins, wenn es ums Filmemachen geht? Ist es nur das feel-bad in seinen movies, wie es das Volke in den Mund nimmt? Weit entfernt erscheint diese Ebene in der Tat nicht, denn wenn es um Iñárritu geht, geht es auch immer ums Verlieren, um einen Tiefpunkt und um Leben und Tod. Seine Erzählungen handeln  von Schicksalsschlägen, vom Leid und Schmerz, die in jedem Dasein mehr oder weniger dazugehören, uns das Leben immer wieder erschweren und uns wie spöttisch aus der Bahn werfen, als möge uns nichts gegönnt sein. Jeder kennt es. Jeder erlebt es. Iñárritus Filme mögen sicherlich das sein, was die Menschen „feel-bad“ nennen,  doch eigentlich ist es etwas viel bedeutenderes: Es ist unser Leben auf ehrlichster und wahrhaftigster Ebene. Unser Dasein, nur eben ohne Cuts.

Iñárritus Dramen sind wenig in sich selbst doppeldeutig oder interpretierfreudig verpackt wie zum Beispiel Dramen von David Lynch oder Tim Burtons meisterhafte Figurentiefe. Seine Filme lassen nur eine Deutung zu: Sie sind die Wahrheit, sie zeigen die Wahrheit und sie lassen uns genau diese Wahrheit verspüren. Es gibt hier kein vielleicht, sondern nur ein „So ist es. Punkt.“. Und mit so wenig wie der Realität schafft Iñárritu es, uns völlig zu erdrücken. 

Man sagt Iñárritu immer nach, er mache nur Schicksalsdramen. Ich behaupte, dazu seien es noch viel beeindruckendere Gesellschaftsdramen, die mit dem Schicksal verfließen. In seinem Spielfilmdebüt – und ich sage es gleich vorweg: in seinem Essenzwerk – ‚Amores Perros‘ wird dies ganz besonders deutlich: Er beginnt mit dem Kapitel ‚Octavio y Susana‘ und zeichnet uns das Bild der mexikanischen Unterschicht. Er durchdringt die hintersten Ecken der mexikanischen Unterwelt, er entwirft den Alltag auf den Straßen, die illegalen Hundekämpfe, der raue Umgangston, die Kriminalität, Drogen, Alkohol, das abgründige Nachtleben auf den Straßen. Sprich: Er zeigt uns nicht nur, er durchwandert mit uns an der Hand all die sozialen und gesellschaftlichen Umstände. Das zweite Kapitel ‚Valeria y Daniel‘ zeigt uns den gesellschaftlichen Gegensatz: Das wohlhabende Paar wohnt thronend über den Straßen in einem neuen Penthouse und blickt hinab. „Es ist wunderschön hier!“ Mit dem dritten Kapitel stürzen wir genauso schnell wieder hinab wie wir hinaufflogen: Der vereinsamte alte Streuner verdient seinen erbärmlichen Unterhalt mit Auftragsmorden. 
Der Titel „Amores Perros“ und gleichzeitig der primäre rote Faden des Films bedeutet „Hundeliebe“. Für das Ex-Model Valeria bedeutet das ihr kleiner Richie, der plötzlich im Boden verschwindet – oder auch im Erdboden versinkt? –, für Octavio bedeutet es Geld und für El Chivo bedeutet es seine Familie. Der Untertitel des Films lautet „Was ist Liebe?“. Für Octavio ist das seine Susana, die Freundin seines Bruders. Für Valeria ist das ihr mehr oder weniger stabiles Verhältnis zu ihrem Daniel. Für El Chivo sind es seine Hunde und seine verstorbene Ehefrau und die gemeinsame Tochter. Iñárritu zeigt uns mit seinem ersten Film, dass es natürlich Antworten auf so viele Dinge im Leben gibt, aber niemals auf das Leben selbst, die irgendeine Sicherheit garantiert.

In seinem – meinem Herzen nach zu urteilen – Meisterwerk ‚21 Gramm‘ überfordert Iñárritu den Zuschauer schließlich gänzlich: Nun nicht nur auf seelischer, emotionaler Ebene, sondern auch komplett rational in seinem verworrenen Erzählstil, welcher das Gesamtkonzept beeindruckend widerspiegelt. Nichts ist in Ordnung, das Leben ist nicht geordnet, es bedeutet Chaos. Es ist sein intensivster Film, welcher nicht mehr „nur anbietet“, sondern sich mit seinem Zuschauer und den Figuren zwingt, in den völligen Schmerz zu stürzen. Es kreist sich alles um Schuld, Schmerz, Verluste und die nicht näher hätte sein könnende Grenze zwischen Leben und Tod [„Das ist also das Wartezimmer des Todes.“].

Mit seinem größten Film ‚Babel‘ geht er noch einen Schritt weiter: Das zusammenhängende Schicksal befindet sich nun nicht mehr nur auf einer erfassbaren räumlichen Ebene, sondern auf drei Kontinenten. „Wer verstanden werden will, muss zuhören.“ – Spätestens hier wird klar, worum es in ‚Babel‘ geht: Um die Kommunikation. Die taubstumme Chieko in Tokio versucht verzweifelt mit ihrem Vater zu kommunizieren, wir sehen Brat Pitt wie er weinend aus Afrika mit seinem Sohn nach Amerika telefoniert und er ihm väterlich – und ganz verständlich – nicht gestehen kann, was mit seiner Frau passierte, wir begegnen den beiden marokkanischen Jungs, die ihrem Vater nur verschweigen können, was sie getan haben und wir hören, wie Susan (Cate Blanchett) ihrem Mann bereits mitten in einer vermutlichen Art Versöhnungsurlaub die Frage „Richard, was machen wir eigentlich hier?“ stellt. Iñárritu sagt uns – ebenfalls erkennbar in seiner Anwendung des Untertitels: Wir sprechen schon lange nicht mehr ein und dieselbe Sprache. In unserer Sprache, der conditio humana schlechthin, die den Menschen unter anderem zu einem höherentwickelten Wesen macht, haben wir uns verlaufen. Es ist nur noch Stimmengewirr [Englisch: Babel]. 
Doch damit kreiert Iñárritu keine einfache Kuschelkritik auf die menschliche Kommunikation. Er benutzt es als Frage in einer Geschichte voller Kulturzusammenstöße. Iñárritu zeigt uns nicht das übliche Leitmotiv „Das alles ist böse und schlecht!“, wozu ein Aronofsky oder Lars von Trier beispielsweise schnell und gerne neigt, sondern „Es ist weder schlecht, noch gut. Es ist normal.“. Es ist das Leben.

Der „Es ist normal“-Gedanke ist einer der bedeutendsten Betrachtungsweisen, wenn es um Iñárritu geht. Was ihn ganz besonders stark und ansprechend macht, ist seine Wertungslosigkeit. Sei es der junge Kleingauner aus ‚Amores Perros‘, der an illegalen Hundekämpfen teilnimmt, bei einer Flucht einen schweren Unfall verursacht und dadurch den Traum einer Frau zerstört, sei es der Gefängnispriester aus ‚21 Gramm‘, der einen Mann und seine beiden Töchter überfährt oder der junge Yussef, der onaniert, seine Schwester beim Ausziehen beobachtet und schließlich eine Frau beinahe erschießt. Sie alle haben Schuld und Fehler begangen. Iñárritu sagt uns: Das ist der Mensch. Das ist das Leben. Unfälle geschehen, wir treffen falsche Entscheidungen und wir sind dem Schicksal, der Fügung oder dem Zufall unterlegen. Es ist „normal“. Amélia bringt es in ‚Babel‘ vielleicht am besten auf den Punkt: „Ich bin nicht böse. Ich habe nur eine Dummheit gemacht.“ 

In seinem jüngsten Werk ‚Biutiful‘ wendet er sich nur oberflächlich in seiner Erzählung eines unverworrenen Einzelschicksals von seinem Leitgedanken ab. Hier begegnet uns die zerrüttete Unterschichtsfamilie Barcelonas: Die Frau depressiv, der Mann krebskrank. Mittendrin: Die beiden Kinder. Hier lässt Iñárritu uns einen tiefen Blick in die verlorene Seele einer Familie blicken. Was tun, wenn man eigentlich schon verloren hat? Es wirft – und das kann man auch als schwächere Leistung empfinden – Themen aus ‚21 Gramm‘ und ‚Amores Perros‘ quasi in einen Topf: Der Kampf ums Leben und das Todkranksein mit der Existenz in Armut und dem Kämpfen ums Überleben inmitten trister, düsterer Straßen. Nur in Europa, in einer Stadt, die vor allem für ihren jungen Party- und Shoppingtourismus, dem sonnigen Strand und das Städtereisen bekannt ist. Mit ‚Biutiful‘ offenbart er uns einfühlsam und intensiv, dass jeder Geheimnisse, Abgründe und dunkle Gassen verbirgt. Sogar eine ganze Stadt. 

Iñárritus Filme zerstören uns, bringen den Menschen und das Dasein auf der Erde schwermütig auf den Punkt und uns selbst auf den Boden der Tatsachen, der bitteren Wahrheit, zurück. So widersprüchlich es klingt, ja, genau das ist es, was seine Geschichten so wahnsinnig eindringlich machen. Wir sehen Gefühle, Menschen und ihre Krisen. Doch wir sehen eigentlich vor allem eins: Kino der Vollendung. Denn Iñárritu bricht für mich alle Bahnen des herkömmlichen Dramas: Wie nahe er an seine Figuren herantritt, dass wir uns nicht nur daher gesagt mit ihnen identifizieren, sondern wir sie spüren, und er sie so privat und „normal“ wie nur vorstellbar zeigt, was seine Erzählung und die Schicksalsschläge doch so wunderbar authentisch und ehrlich macht wie das Leben selbst, ist beispiellos. Wie bereits angedeutet, schätze ich neben seiner intimen „es ist normal“-Schilderung unseres Daseins ganz besonders eins bei Iñárritu: Sein Kultur- und Gesellschaftsspektrum, das in seinen Figuren herausragt. Sei es die mexikanische Unterschichtsfamilie aus ‚Amores Perros‘, die bürgerliche amerikanische Familie oder der gläubige Gefängnisprediger aus ‚21 Gramm‘, die Berberen in Marokko und der Vater mit seiner gehörlosen Tochter in Tokio aus ‚Babel‘, das schwierige Familienleben in Barcelonas Straßen oder das homosexuelle Paar in Barcelona aus ‚Biutiful‘: Sie alle haben mit ihren eigenen Krisen zu kämpfen, was den Horizont seines kompletten Schaffens doch unheimlich erweitert. 

Im Gesamtwerk betrachtet zeigt er uns mit dem Makrokosmus Welt und dem Mikrokosmus Mensch: Egal wer und egal aus welcher Gesellschaftsschicht, egal wo und aus welchem Kulturkreis: Wir alle haben mit Schicksalsschlägen, unseren ganz persönlichen und wenn nicht sogar ganz alltäglichen, eben „normalen“ Rätseln zu kämpfen. Und diese bringt Iñárritus meinem Empfinden nach beispiellos eindringlich rüber. Mein Jahrhundertgenie.


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